Die Künstlerkolonie Worpswede

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Das Teufelsmoor als Ort künstlerischer Inspiration

Carl Vinnen, Mondnacht im Teufelsmoor (1900)

Die Region um Worpswede war früher eine unwegsame Sumpf- und Moorlandschaft.
1750 begann die staatliche Moorkolonisation im Teufelsmoor. Moorkommissar Jürgen Christian Findorff legte systematisch Dörfer und Gräben an. Er förderte den Ausbau von Entwässerungsgräben und führte sie zu schiffbaren Kanälen zusammen. Ebenso verpflichtete Findorff die Moorbauern, die Kanäle zu pflegen und zu unterhalten.
Das Leben für die Siedler war schwer, denn der Boden war karg und fruchtarm.

aus: Große Kunstschau Worpswede

Den eersten sien Dot, den tweeten sien Not, den drütten sien Brot.

Dieses Sprichwort aus dem Teufelsmoor drückt aus, dass sich erst die dritte Generation vom Torfstechen ernähren konnte.
Der Verkauf des gestochenen und getrockneten Torfs war der Haupterwerb der Moorbauern, der bis ins 20. Jahrhundert das wichtigste Heizmaterial war. 

aus: Große Kunstschau Worpswede


Moore leisten einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz. Sie speichern Kohlenstoff aus der Luft und gelten daher als CO²-Senken. Weltweit sind nur drei Prozent der Landfläche mit Mooren bedeckt, dennoch speichern diese etwa doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Wälder der Erde zusammen. Der positive Effekt kehrt sich jedoch um, wenn Moore entwässert werden, denn dann setzen die Moore das gespeicherte Kohlendioxid frei. 
Heute werden Flächen wieder vernässt.

Otto Modersohn – aus Otto-Modersohn-Museum Fischerhude

Genau diese Landschaft und ihre Bewohner haben die Worpsweder Maler inspiriert, und es sind zauberhafte Landschaftsbilder entstanden.

Paula Becker – Moorgraben (1900)

Eine Torfkahnfahrt auf der Hamme

Torfkähne waren in der Zeit zwischen Mitte des 18. Jahrhunderts und dem beginnenden 20. Jahrhundert die einzigen Verkehrsmittel im moorig-nassen Land bei Bremen. Die Torfkähne glitten durch die vielen kleinen Wasserstraßen im Teufelsmoor und prägten das Landschaftsbild. Mit ihnen fuhr man z. B. auch am Sonntag zur Kirche. Die Torfbauern stakten, treidelten, wriggten und segelten mehrere Tage lang bis nach Bremen und an die Unterweser, um den Torf zu verkaufen.

Fritz Mackensen – Torfkähne auf der Hamme (1904)

Die Adolphsdorfer Torfschiffer, 1983 als Verein gegründet, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die in Vergessenheit geratenen Torfschiffe zurück in das Bewusstsein der Menschen zu holen und wieder in das Bild der Landschaft zu integrieren.
Zwischen Mai und Oktober werden regelmäßig Torfkahnfahrten auf der Hamme angeboten.

Wir haben uns an einem heißen Augusttag auf eine Torfkahnfahrt begeben von der Hammehütte Neu Helgoland (siehe Karte) in Richtung Tietjens Hütte. Wir saßen bequem auf Sitzkissen und konnten die Wasserlandschaft genießen.
Auf dem Rückweg quälte uns der Durst sehr, und wir kehrten in einer der ältesten Hammehütten Melchers Hütte (erste Schankkonzession 1814) ein.

Melchers Hütte

Obwohl es traditionell in der Hütte keinen Strom gibt, war das Bier herrlich kalt!

Mit dem Moorexpress nach Worpswede

Vor mehr als einem Jahrhundert revolutionierte der Moorexpress die Fortbewegung durch das Teufelsmoor: Erstmals konnten die Menschen ihre Region trockenen Fußes durchqueren. Dadurch ist der rote Zug – wie die Torfkähne mit ihren braunen Segeln – zu einem Symbol der Landschaft und ihrer Besiedlungsgeschichte geworden.

Moorexpress von Bremen nach Stade

Auch heute noch kann man den Spuren der Teufelsmoorbewohner folgen:
Von Mai bis Oktober ist der historische Zug an Wochenenden und Feiertagen auf der reizvollen Bahnstrecke unterwegs.
Wir haben diese Möglichkeit genutzt, um durch die Landschaft fahrend zur Künstlerkolonie Worpswede zu gelangen.

Eine Künstlerkolonie entsteht

In diesem Haus war Fritz Mackensen (1866-1953), der künftige Entdecker Worpswedes für die Kunst, erstmals in seinen Akademieferien zu Gast.
Der zufälligen Begegnung mit Mimi Stolte, die er als Kunststudent bei deren Verwandten in Düsseldorf traf, und der Einladung durch ihre Familie ist es zu danken, dass Mackensen sich für das Bauerndorf und die Moorlandschaft begeisterte.
in der Folge animierte er die Studienkollegen Otto Modersohn und Hans am Ende, sich ihm anzuschließen.

[…] fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren und Lehrern, die Natur ist unsere Lehrerin und danach müssen wir handeln.

Otto Modersohn (Sommer 1889)

https://www.worpswede-museen.blog/tag/otto-modersohn/

Der Aufschrei Otto Modersohns (1865–1943) spricht aus, was Fritz Mackensen und Hans am Ende fühlen. Der Grundstein der Künstlerkolonie Worpswede nach dem Vorbild von Barbizon ist gelegt.
Abkehr von der reinen Ateliermalerei und hinaus in die Landschaft und bei natürlichen Licht- und Schattenverhältnissen und naturgegebener Farbigkeit die jeweilige Landschaft darstellen.

1893 schließt sich Fritz Overbeck an, 1894 Heinrich Vogeler und Carl Vinnen, der sich im Nachbarort niederlässt und 1898 Paula Becker.

1895 gründen sie die Künstlervereinigung Worpswede und erzielen erste, große Erfolge.
Fritz Mackensen erhält eine Goldmedaille für sein Monumentalgemälde Gottesdienst im Freien nach dessen Ausstellung im Glaspalast München. Und die Münchner Pinakothek kauft Otto Modersohns Sturm im Teufelsmoor. (Das Original ist nicht erhalten). Dadurch werden die jungen Maler auf einen Schlag bekannt.

Fritz Mackensen – Gottesdienst im Freien (1895)
Otto Modersohn – Sturm im Teufelsmoor (1927)

In den nächsten Jahren reißt die Erfolgsserie nicht ab. Die Maler bestücken große Ausstellungen von Hamburg bis Wien und erzielen beachtliche Summen beim Verkauf ihrer Bilder.

Ihre Bekanntheit führt Kunststudenten nach Worpswede, um bei den Malern Unterricht zu nehmen.
Besonders für Malerinnen war es eine Möglichkeit, qualifizierten Kunstunterricht zu bekommen, da ihnen nur sehr begrenzter Zutritt zu offiziellen Kunstakademien gestattet wurde. Und die für sie vorgesehenen privaten Damenakademien entsprachen nicht dem Niveau von Kunstakademien.
So nehmen Paula Becker und Clara Westhoff (Bildhauerin) bei Fritz Mackensen Unterricht. Beide werden enge Freundinnen.

Heinrich Vogeler und der Barkenhoff

 Heinrich Vogeler war ein Multitalent:
Maler, Grafiker, Architekt, Designer. Der vielseitig begabte Künstler ist besonders durch seine Werke aus der Jugendstilzeit bekannt geworden.

Vogeler kaufte den Barkenhoff, ursprünglich eine Bauernkate, gestaltete ihn ab 1895 nach Prinzipien des Jugendstils und verwandelte ihn in ein Künstlerdomizil mit selbst entworfenen Möbeln, Geschirr und Tapeten.
Den Garten schmückte er mit symmetrisch angelegten Blumenbeeten und Hecken und pflanzte ein Birkenwäldchen, das dem Haus seinen Namen gab. Er sah das Anwesen als Gesamtkunstwerk von Architektur, Kunst, Inneneinrichtung und Garten. In seiner Kleidung passte er sich dieser Traumwelt an und trug Stehkragen, Zylinder und Schoßrock wie in der Zeit des Biedermeiers. Für seine Frau Martha entwarf er Kleider und Schmuck und wollte sie auf diese Weise in seine Traumwelt mitnehmen. 

der Barkenhoff August 2023

Vom Garten aus erkennt man die perfekte Symmetrie des Hauses mit den Urnen auf beiden Seiten des Giebels, die mit den Empire-Urnen auf den Balustraden korrespondieren und in eine einladende Gartentreppe mit nach außen schwingenden Wangen münden.

Der Barkenhoff wurde ein wichtiger Treffpunkt der Künstlerkolonie. Zur Barkenhoff-Familie gehörten der Dichter Rainer Maria Rilke, seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, Otto ModersohnPaula Modersohn-Becker, deren Schwester Milly, seine Ehefrau Martha Vogeler, sein Bruder Franz mit Frau Philine.
Die drei Paare Rilke, Modersohn und Vogeler heirateten alle im Jahr 1901.

Heinrich Vogeler – Frühling (1897)

Immer wieder sind Vogelers Bildthemen der Barkenhoff in Worpswede und seine Frau Martha, die er als Märchenfee, als Minnefräulein und als Madonna wie aus einer fernen Welt in die seine versetzte.
Mir gefällt das Bild Frühling mit diesem aparten türkisen Kleid seiner Frau Martha, die hier auch Modell stand.

Ein besonders schönes Objekt seiner Architekturentwürfe ist der restaurierte Jugendstilbahnhof von Worpswede.

Bahnhof von Worpswede

In seinem 1905 vollendeten großformatigen Panorama (175x310cm) des blumengeschmückten Entrees des Barkenhoffs versucht Vogeler die sonntäglichen Treffen der Barkenhoff-Familie bei Musik, Lesungen und Diskussionen noch einmal aufleben zulassen, aber der Gesichtsausdruck der Beteiligten wirkt nicht angeregt oder fröhlich.
Im Zentrum des Bildes steht Martha Vogeler, vor ihr liegt träge ein russischer Windhund auf der Treppe.
Links, hinter der Mauer, sitzt Paula Modersohn-Becker neben Agnes Wulf, einer Freundin Martha Vogelers. Auf einer Bank daneben sitzt Clara Rilke-Westhoff allein ohne Rilke mit unglücklicher Miene.
Im Hintergrund betrachtet Otto Modersohn die Szene.

Rechts stehen Franz und Heinrich Vogeler (fast verdeckt) und Marthas Bruder Martin Schröder, in Hausmusik vertieft.

Heinrich Vogeler: Das Konzert. Sommerabend auf dem Barkenhoff. (1905)

Das Scheitern der Ehe von Clara Rilke-Westhoff, die 1903 ohne Rilke nach Worpswede zurückkehrte, der Umzug des Ehepaars Overbeck nach Bremen und das künstlerische Auseinanderdriften von Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker zeigen den Auflösungsprozess der Worpsweder Künstlerkolonie. Paula hat Angst, in Worpswede abzustumpfen und zu versauern. (Zit. nach Rainer Stamm, Ein kurzes, intensives Fest, S. 176).

Vogeler selbst spürt, dass seine Jugendstilwerke nicht mehr gefragt sind. Seine Ehe steht in der Krise.
Er hat traumatische Erlebnisse im Ersten Weltkrieg (zu dem er sich freiwillig gemeldet hat) und den revolutionären Ereignissen in Russland, die ihn zum Pazifisten und Kommunisten werden lassen.

Er versucht, den Barkenhoff zu einer sozialistischen Landkommune umzuwandeln. Der Versuch scheitert und er überlässt den Barkenhoff der internationalen Roten Hilfe, die dort ein Kinderheim einrichtet.
Vogeler geht mit seiner zweiten Frau Sonja Marchlewska in die Sowjetunion, lebt dort als Maler und Architekt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wird er nach Kasachstan zwangsevakuiert und stirbt dort 1942.

Paula Modersohn-Becker – zwischen Worpswede und Paris

Während Paula Modersohn-Becker in ihrer Worpsweder Zeit hauptsächlich als Frau von Otto Modersohn gesehen wurde denn als Malerin (Ein Schicksal, das viele Künstlerinnen dieser Zeit mit ihr teilten), so steht sie nach ihrem Tod bis heute synonym für die Künstlerkolonie Worpswede.

Sie war eine Wegbereiterin des Expressionismus und die erste Künstlerin der Welt, der ein ganzes Museum gewidmet wurde: die früh verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907).

Der Bremer Kustmäzen und Kaffeehändler Ludwig Roselius (Gründer der Firma Kaffee Hag) beauftragte den Künstlerfreund Modersohn-Beckers (1876–1907) Bernhard Hoetger, ein Museum für Paula in der Böttcherstraße zu entwerfen. Am 2. Juni 1927 wurde das Haus, im expressionistischen Stil, eröffnet und von dem Bauherrn unter Voranstellung des Mädchennamens der Künstlerin Paula-Becker-Modersohn-Haus genannt.

Im Sommer 1897 kommt Paula Becker zum ersten Mal nach Worpswede – und ist von der Landschaft und dem Zauber des Ortes tief beeindruckt. Auch die Künstlergemeinschaft, die dort lebt und arbeitet, gefällt ihr. Schon ein Jahr später gehört sie dazu.

In der Anfangszeit malte sie impressionistisch anmutende Studien der Worpsweder Moor- und Birkenlandschaft, die bereits ihre Vorliebe für einen streng reduzierten Bildaufbau erkennen lassen.

Birkenstämme vor roter Hauswand (1901)

Nach dem Verriss ihrer Ausstellungsstücke in der Bremer Kunsthalle reiste sie in der Silvesternacht 1899/1900 erstmals nach Paris. Dort begegnete sie den Werken der französischen Avantgarde, die sie auf ihrer Suche nach neuen Ausdrucksformen bestätigten. Bis 1907 folgten drei weitere Paris-Aufenthalte. Jeweils über mehrere Monate.

Ich sehe diese Pariser Reisen an als Ergänzung meines hiesigen etwas einseitigen Lebens und ich fühle, wie dieses Untertauchen in eine fremde Stadt mit ihren tausend Schwingungen nach zehn ruhigen Worpsweder Monaten mir ungefähr Lebensbedürfnis wird.

(zit. nach Stamm, S.175)

Worpswede wird ihr zu eng.
Paris gibt Paula die Energie, die sie braucht: Es ist das Zentrum der künstlerischen Welt. Die sprudelnde Aktivität in Montparnasse nährt sie und bestätigt sie in ihren modernen Entscheidungen. Sie besucht Maurice Denis und Vuillard, die Gründer der Nabis-Bewegung, sie sieht Maillol, entdeckt Matisse, Seurat, Gauguin, die Fauves und natürlich Cézanne, der sie wie ein Donnerschlag trifft.
(Marie Darrieussecq für die Museen Böttcherstraße, Die Pariser Adressen der Paula Modersohn-Becker)
Und sie löst sich immer mehr von der eher konventionellen Kunst ihrer Malerfreunde.

Ab 1903 diente ihr zunehmend das Stillleben zur Klärung formaler Fragen; deutlich zeigt sich in dieser Gattung ihre Verwandtschaft zu Paul Cézannes Bildauffassung.
(Paula Modersohn-Becker Museum/Paula Modersohn-Becker)

Stillleben mit Kürbis (1905)


Im Mittelpunkt des Werkes von Paula Modersohn-Becker steht jedoch der Mensch; vor allem Kinder, alte Frauen und Worpsweder Bäuerinnen regten sie zu Porträts an. Dabei verzichtete sie auf eine idealisierende Darstellung der kindlichen und bäuerlichen Lebenswelt und fand zu einer Bildsprache, die dem Wesenhaften und Ursprünglichen der Porträtierten Ausdruck verleiht. Ihre bäuerlichen Szenen sind nicht romantisch, aber auch nicht anklagend. Sie mochte die einfachen Menschen, die sie malte, und war zudem an Form, Fläche und Konstruktion interessiert.

Nicht nur Worpswede wird ihr zu eng, sondern sie fühlt sich auch von ihrer Ehe eingeengt.

Ich habe von Zeit zu Zeit den starken Wunsch, noch etwas zu erleben.
Daß man, wenn man heiratet, so furchtbar festsitzt, ist etwas schwer.

(zit. nach Stamm, S. 184)

Mit ihrer Parisreise 1906 verlässt sie Otto Modersohn, um völlig unabhängig ihr künstlerisches Leben zu gestalten. Es ist eine Phase großer Schaffenskraft.

Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag 25. Mai 1906

Herausfordernd, prüfend schaut eine bis zur Hüfte entblößte Frau zum Betrachter. Ihren Oberkörper schmückt eine Bernsteinkette (Paula Modersohn-Becker schien ein Faible für Bernsteinketten zu haben), die bis zu den Brüsten reicht. Die Hände hat sie schützend um den runden Bauch gelegt. 
Die Haltung kann auf eine Schwangerschaft verweisen oder metaphorisch auf die doppelte Schaffenskraft von Frau und Künstlerin (zit. nach Stamm, S. 203).

Die kunsthistorische Sensation des Bildes liegt darin, dass es sich um den ersten Selbstakt einer Frau handeln dürfte.
Gesellschaftlich verstieß sie gegen jede Konvention.
Dass sich eine Frau lebensgroß selbst als Akt präsentiert, war bis 1906 undenkbar. Bis dahin war die nackte Frau Modell, Studienobjekt und sinnliches Thema für die Malerei von Männern.

Mit diesem Bild hat Paula Modersohn-Becker eine Inkunabel der Emanzipation geschaffen (Stamm, S. 206).
Ihr werden viele Künstlerinnen folgen wie Frida Kahlo oder Cindy Sherman, die den eigenen Körper als Ausdrucksmittel ihrer Kunst einsetzen.

Allerdings war Paula finanziell nicht unabhängig, weil sie keine Bilder verkaufte. Otto Modersohn unterstützte alle ihre Parisreisen, auch die letzte. Er wirbt rührend und verzweifelt um sie, fährt nach Paris, nimmt ein eigenes Atelier und verbringt den Winter mit Paula in Paris.

Was könnte ich alles für dich tun!
Du suchst Erlebnisse- gut, ziehe aus und suche sie, und wenn dich eine Liebschaft lockt, folge ihr, ich bleibe dir getreu, und ich erwarte dich, denn du bist mir dann immer noch eine Welt.
Du suchst Freiheiten. Nimm alle Freiheiten, reise, lebe von mir getrennt mal, wohne bei Brünjes, auch des nachts, tue alles, was deiner Natur nötig ist.
Müssen wir uns denn darum trennen für’s Leben?


(zit. nach Stamm, S.195)

Tatsächlich kehrt Paula mit ihrem Mann im März 1907 nach Worpswede zurück.
Sie ist schwanger und bekommt am 02. November ihr erstes Kind. Mathilde.

Paula Modersohn-Becker mit Tochter Mathilde (November 1907)

Am 20. November erleidet sie eine Embolie und stirbt.
Ihr Leben war ein kurzes, intensives Fest. (Tagebuchnotiz 1900, zit. nach Nordwestzeitung online)

Gemeinsam mit Heinrich Vogeler kümmert sich Otto Modersohn um den künstlerischen Nachlass seiner verstorbenen Frau. Er organisiert Ausstellungen in Museen, und die Werke von Paula Modersohn-Becker erlangen Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Während der Nazizeit werden ihre Bilder als entartete Kunst gebrandmarkt. Einige Bilder fallen dieser Zeit zum Opfer, andere gelangen außerhalb von Deutschland bis in die USA und Paula Modersohn-Becker wird auch dort bekannt.

Grab von Paula Modersohn-Becker in Worpswede

[ … ] Und Früchte will ich kaufen, Früchte, drin
das Land noch einmal ist, bis an den Himmel.

Denn Das verstandest du: die vollen Früchte.
Die legtest du auf Schalen vor dich hin
und wogst mit Farben ihre Schwere auf.
Und so wie Früchte sahst du auch die Fraun
und sahst die Kinder so, von innen her
getrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt wie eine Frucht,
nahmst dich heraus aus deinen Kleidern, trugst
dich vor den Spiegel, ließest dich hinein
bis auf dein Schauen; das blieb groß davor
und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt dein Schaun
und so besitzlos, von so wahrer Armut,
dass es dich selbst nicht mehr begehrte: heilig. [ …]

(aus: Rainer Maria Rilke – Requiem für Paula Modersohn-Becker, Paris 31.10. – 02.11. 1908)

Wie schade!

Die letzten Worte Paula Modersohn-Beckers

Otto Modersohn und Fischerhude

Das Besondere an der idyllischen Umgebung des Künstlerorts Fischerhude sind die vielen Arme der Wümme, die die Feucht- und Flusslandschaft durchziehen. Noch heute erinnern die vielen alten Bauernhöfe an die wohlhabenden Bauern, die durch Aal- und Heuernten zu Reichtum gelangten.
Zahlreiche alte Entenhäuser, Bootshäuser und Stege machen vergangene Traditionen gegenwärtig.

Aber auch kulinarisch hat Fischerhude schön gelegene Restaurants mit Garten und Schatten spendenden alten Bäumen zu bieten. Wir waren im Puppencafé im Eichenhof , haben vorzüglich gegessen und uns dann noch ein halbes Stück Kuchen (siehe Foto) aus dem reichhaltigen Kuchenangebot als Dessert gegönnt.

Nach Paulas Tod zieht Otto Modersohn ins unweit gelegene Fischerhude. In Fischerhude findet er die in Worpswede verloren gegangene Naivität und Ursprünglichkeit wieder.
Dort gefiel es mir wieder so gut, dass ich am 23. Juli dorthin übersiedelte. (zit. nach Frauke Berchtig, Künstlerkolonie Worpswede, S. 49)
Die Natur bleibt bis zum Schluss das beherrschende Motiv in seinem Werk.

Das alles ist meine Kunst, das ist, was ich fühle, draußen fühle und drinnen fühle,
und darum muß ich’s machen.

zit. nach Berchtig, S.49

Das Otto Modersohn Museum ist dem Landschaftsmaler Otto Modersohn gewidmet und präsentiert sein Werk auf 500 Quadratmetern in thematisch wechselnden Ausstellungen.
Sein außergewöhnlich umfangreiches malerisches und zeichnerisches Werk wurzelt im 19. Jahrhundert und stellt sich in die Tradition der französischen Landschaftsmalerei. Es wird auf etwa 12000 Werke geschätzt.
Otto Modersohn ist einer der wichtigsten deutschen Landschaftsmaler der neueren Kunstgeschichte. 

Architektonisch ist das Museum sehr spannend. Die technisch hochmodernen und großzügigen Ausstellungsräume wurden aus altem Fachwerk errichtet. Klassische Elemente und zeitgenössischer Museumsstandard werden so umsichtig zu einer Architektur vereint , die sich nahtlos in die Umgebung einfügt.

winterliche Wümme mit Bootsschuppen in Fischerhude

Diese Reise war erlebnisreich und anregend.

Es ist so viel gewinnbringender, sich an den Orten aufzuhalten und in der Landschaft umherzulaufen, sie im traditionellen Torfkahn oder dem historischen Moorexpress zu erleben, in der die Maler*innen ihre Bilder schufen als nur in eine Ausstellung zu gehen außerhalb dieser Landschaft.
Gerade für mich als Fotografin ist das Anschauen von Gemälden von großem Interesse. Ich kann immer wieder staunen, wie Maler*innen Licht und Farbe setzen und damit eindrucksvolle Stimmungen erzeugen.

8 Replies to “Die Künstlerkolonie Worpswede”

  1. Liebe Barbara,
    Du verstehst es immer wieder , unbändige Lust auf eine Reise zu machen, von der Du gerade berichtet hast!
    Vielen Dank und lieben Gruß
    Wolfgang

    1. Lieber Wolfgang,

      das mache ich sehr gerne, wenn ich selbst begeistert bin!
      Ich hatte im Oktober 2022 die große Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung in der Schirn in Frankfurt gesehen. Und dann wollte ich auch die Landschaft kennen lernen, in der sie gelebt und gemalt hat zusammen mit den anderen Künstlern. Da bot sich die Reise im Sommer an. Eine beeindruckende Malerin, eine beeindruckende Frau.

      Liebe Grüße
      Barbara

  2. Diesen so kenntnisreich formulierten Bericht über die Künstlerkolonie Worpswede habe ich mit wachsendem Interesse gelesen, liebe Barbara ! Wie hast Du das bloß geschafft, die vielen verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten so zu schildern, daß man versteht, was dieser Aufbruch in die Moderne am Vorabend des ersten Weltkrieges für die Entwicklung der Kunst bedeutet hat!

    Die Beziehungen der Künstler nach Frankreich in dieser Zeit (Modersohn/ Becker et al.) finde ich auch bemerkenswert, denn schließlich herrschte „“Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland.
    Das, was aber letztlich – damals wie heute – zählt, ist die künstlerische Sicht auf die Welt, jenseits von Chauvinismus und Dünkel. Und gerade das hast Du so eindrücklich und dadurch nachvollziehbar verdeutlicht.
    Schön fand ich auch, daß Du Quellenangaben gemacht hast, damit man auch selbst nachlesen oder sich vor Ort ein Bild machen kann, wie ich demnächst…

    1. Liebe Ulrike,

      danke für deine ausführliche Rückmeldung und die Einordnung in den historischen Kontext.

      Für mich war die Künstlerkolonie neu (bis auf Paula Modersohn-Becker). Es war sehr interessant, sich in die einzelnen Biographien zu vertiefen. Das Ganze dann zusammenzufügen ist wie immer eine Herausforderung, der ich mich gerne stelle.

      Ich wünsche dir einen anregenden Aufenthalt in Worpswede und freue mich, wenn wir uns anschließend über unsere Eindrücke austauschen.

      Liebe Grüße

      Barbara

  3. Liebe Barbara, es war wieder einmal ein Fest, deine Erlebnisse, Eindrücke und vor allem die wunderschönen Bilder teilen zu dürfen!
    Es gelingt dir, Künstler*innen, ihre Leben und Werke, die Landschaft und touristische Spots miteinander zu verknüpfen und anschaulich zu machen! Das macht Lust, das alles selbst zu sehen und erleben! Danke dafür.Lisa

    1. Liebe Lisa,

      sehr gerne!

      Danke für deine differenzierte Rückmeldung! Lust auf Reisen zu machen verknüpft mit Anschauung und Hintergrundinformation, ist mein Ziel.
      Und wenn das klappt, dann freue ich mich besonders.

      Weiterhin gute Fahrt und viele schöne Eindrücke wünscht dir
      Barbara

  4. Liebe Barbara,

    das war ein sehr ausführlicher und interessanter Bericht über das Teufelsmoor und die Künstlerkolonie Worpswede. Ich glaube, über die harten Lebensbedingungen der seinerzeitigen Moorbauern können wir uns keine Vorstellungen machen. Umso bemerkenswerter, dass in diesem Umfeld eine so wichtige und bedeutende Künstlerkolonie entstanden ist. Die Bilder von Paula Modersohn sind für den Betrachter heute noch eine Herausforderung und müssen auf das damalige Bürgertum äußerst provozierend gewirkt haben.

    Vielen Dank. Liebe Grüße Rainer

    1. Sehr gerne, lieber Rainer!

      Mir gefallen die Landschaftsgemälde der traditionellen Worpsweder Künstler sehr. Ich bin aber besonders beeindruckt von der Malerei Paula Modersohn-Beckers. Sehr mutig, eigenständig und ihrer Zeit voraus. Sie hat zu ihren Lebzeiten auch nur 5 Bilder verkauft. Sie hat ihren Stil aber immer verfolgt.
      Eine wunderschöne Gegend, wenn man Norddeutschland mag.
      Ich kenne das Leben von Torfbauern eher aus der irischen Literatur. Habe gerade einen Artikel gelesen, dass selbst in Irland nur noch der Torfabbau zum Hausgebrauch gestattet ist wegen der hohen CO² Bilanz.

      Liebe Grüße
      Barbara

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