Nach der Ausstellung Survivors auf Zollverein habe ich mir die umfassende Werkschau Martin Schoellers in Düsseldorf angeschaut. Ich kannte einige seiner Close-Ups aus Berlin, habe die 75 Fotos von Holocaust-Überlebenden gesehen und wußte, dass Martin Schoeller nicht nur Promis aus Film, Sport und Politik ablichtet, sondern dass sein Augenmerk auch auf sozial Benachteiligte und Randgruppen fokussiert ist.
Und diesem Anliegen trägt die Ausstellung in Düsseldorf Rechnung.
Die Ausstellung gliedert sich in 8 Themen:
- Close Up
- Drag Queens
- Identical
- Kayapo
- Portraits
- Hollywood
- Female Bodybuilders
- Death Row Exonorees (aus der Todeszelle Freigesprochene)
Ich möchte euch Beispiele zu jedem Thema zeigen.
Close-Up
Close-Ups sind Martin Schoellers Markenzeichen.
Inspiriert zu seinen Close-ups hat ihn Hilla und Bernd Bechers systematische und legendäre Dokumentation von Industriearchitektur, insbesondere eine Serie von Wassertürmen.
In gleicher Weise wollte Schoeller Portraits fotografieren, das heißt: gleicher Abstand, ähnliche Blickwinkel, gleiche technische Ausrüstung, kein ablenkender Hintergrund.
I was inspired to approach everyone with the same technical treatment, thereby embracing and, I hoped, ultimately teasing out their differences, capturing moments that felt intimate, unposed.
(Martin Schoeller: Works 1999-2019, Göttingen 2020, o.S.)
Drag Queens
Drag, die künstlerische Spielform des Geschlechterwechsels, hat eine lange Tradition und hat sich von einer Nischenform vor 20 Jahren als Kunstform etabliert.
Es gibt verschiedene Varianten der Begriffsbedeutung:
Die populärste Ableitung bezieht sich auf das englische Wort drag (deutsch: schleppen), das für die Schleppe an langen Kleidern steht. Damit wird auf die pompösen Kostüme und das auffällige Make-up der Drag Queens Bezug genommen.
Eine weitere Erklärung ist die Entstehung aus dem britischen Slang um 1900, als man Homosexuelle in Frauenkleidern als Drag Queens bezeichnete.
In der Bezeichnung Drag Queen schwingt zudem eine politische Absicht mit: Sie wollen durch ihre Überzeichnung von Geschlechternormen und -rollen genau diese infrage stellen.
Identical
Martin Schoeller fotografiert im Auftrag von National Geographic eineiige Zwillinge mit demselben Erbgut und denselben Erbanlagen.
Er geht der Frage nach, in wie weit der Einfluß von Lebenserfahrung und sozialem Umfeld sich in feinen Unterschieden in der Erscheinung widerspiegeln. Ein spannendes Projekt!
Photographing people who share so much genetic coding from the same angles is an exploration of differences on a fascinatingly microscopic scale – a nearly scientific attempt to mark minor incongruities in faces that share so much structural detail.
(Martin Schoeller: Works 1999-2019, Göttingen 2020, o.S.)
Kayapo
Die Kayapó sind ein indigenes Volk des Amazonasgebiets im brasilianischen Mato Grosso und Pará.
Martin Schoeller hat Kayapo Frauen während einer Namensgebungszeremonie fotografiert, bei der jeder gemäß der zeremoniellen Vorschriften angemalt und gekleidet sein muss.
I was fascinated by these women’s creativity and the inventive, elaborate use of only two colours.
(Martin Schoeller: Works 1999-2019, Göttingen 2020, o.S.)
Während Make-up in westlichen Kulturen eher unauffällig und natürlich dem Ideal einer glamurösen Schönheit entsprechen soll, benutzen Kayapo Frauen Farbe im Gesicht, um ihren Lebensabschnitt, ihren Platz in der Gemeinschaft und ihre Rolle während der Zeremonie anzuzeigen.
Portraits
Martin Schoellers Portraits stellen den größten Bruch mit seiner Portraitfotografie in neutralen Settings dar.
Er inszeniert bekannte Persönlichkeiten in einem sorgfältig ausgewählten und gestalteten Umfeld. Und gibt durch diese indirekten Charakterisierungen unbekannte Facetten der Stars preis. Diese Fotos haben etwas Spielerisches. Es ist ein großes Vergnügen, sie anzusehen.
Hollywood
Wer Hollywood sagt, denkt an berühmte Filmstudios wie das Unternehmen Walt Disney, große, erfolgreiche Kinofilme und die dazugehörigen glamourösen Stars in ihren überdimensionierten Villen.
Genau das zeigt Martin Schoeller mit seinen Hollywood Fotos nicht.
Sondern er fotografierte hunderte von Menschen, die mit elenden persönlichen und sozialen Ungerechtigkeiten und Lebensumständen kämpfen. Er entschied sich, seinen Fokus auf Frauen* mit trans* Identität zu legen, weil diese Frauen* die verletzlichsten und am häufigsten abgewerteten Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft repräsentieren.
Female Bodybuilders
Bodybuilding ist ein Leistungssport, der zielgerichtet auf den Körper fokussiert ist. Es wird als Männersport gesehen, da ein muskulöser, starker und kräftiger Körper das Ziel ist. Diese Eigenschaften werden mit Männlichkeit assoziiert und kontrastieren mit dem Begriff Weiblichkeit und dem Verständnis des Frauseins als weich, zierlich oder verletzlich. Daher fehlt weiblichen Bodybuildern häufig die öffentliche und finanzielle Anerkennung.
Martin Schoeller möchte sie in seiner Ausstellung würdigen.
Death Row Exonorees
Martin Schoeller möchte den Betrachter mit den Portraits und Leidensgeschichten unschuldiger Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, konfrontieren und die Organisation Witness to Innocence unterstützen.
In dieser Serie habe ich mich mit Witness to Innocence zusammengeschlossen, einer Organisation, die von der Aktivistin Sister Helen Prejan und dem freigesprochenen zum Tode verurteilten Ray Krone gegründet wurde.
Seit ihrem Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten, der einen ungeschönten Blick auf die tiefgreifenden, vernichtenden Mängel in der Anwendung dieser Gesetze ermöglicht, konnten 166 Frauen und Männer, die zum Tode verurteilt waren, freigesprochen werden.
(Martin Schoeller im Text der Ausstellung)
Eine abwechslungsreiche, spannende und einsichtsreiche Ausstellung.
Martin Schoeller – bis 13.09.2020
NRW Forum Düsseldorf
Liebe Barbara,
wenn man deine fotografische wie „literarische“ Aufbereitung oder auch Nachlese zur Werkschau “ Martin Schoeller“ betrachtet und liest, könnte man der Meinung sein, du seist ebenfalls Kuratorin der Ausstellung gewesen. Genial, kritisch und sensibel hast du Fotografien,Text sowie eigene Interpretation inszeniert.
Glückwunsch! Grüße Ute
Liebe Ute,
herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Da wir gemeinsam die Ausstellung besucht haben, ist mir dein Feedback sehr wichtig. Das waren schon zwei sehr interessante Ausstellungen, die wir in Düsseldorf besucht haben. Martin Schoeller und Peter Lindbergh. Nach der doch sehr aufwendigen Arbeit für diesen Beitrag bleibt Herr Lindbergh für meine Website vermutlich auf der Strecke.
Liebe Grüße, Barbara
Liebe Barbara,
was für eine Vielfalt!
Ästhetik zeigt sich hier höchst deutlich auf unterschiedlichste Art und Weise.
Dein Beitrag ist ein toller Zugang zu Schoellers Werk.
Beste Grüße
Daniel
Lieber Daniel,
danke für deine Rückmeldung! Es freut mich, dass mein Beitrag dir einen Einblick in die vielfältige Arbeit von Martin Schoeller verschafft hat.
Am besten ist es natürlich, sich selbst in der Ausstellung ein Bild zu machen.
Liebe Grüße
Barbara
Liebe Barbara,
das Werk von Schoeller ist sehr beeindruckend. Seine Fotos haben m. E. eine große suggestive Kraft und fesseln einen. Das Betrachten und Wirkenlassen der Bilder ist anstrengend. Sein Konzept ist genial und die Wirkung ist verblüffend. Durchaus beklemmend. Es wirkt sehr frontal und äußerst direkt. Der Abstand fehlt. Weder Obama noch Frau Merkel oder Jack N. wirken richtig sympathisch. Eine tolle Ausstellung und wieder ein ganz besonderer Bericht! Vielen Dank und beste Grüße!
Rainer
Lieber Rainer,
danke für deine Rückmeldung mit der präzisen Analyse von Martin Schoellers Fotos. Ich stimme dir voll zu. Die Nähe der Personen auf den Fotos zum Betrachter muss man aushalten. Schoeller konfrontiert uns mit Personengruppen, denen man nicht alltäglich begegnet. Eine Aufforderung zur Reflexion!
Richtig betroffen gemacht haben mich allerdings seine Fotos von Holocaust – Überlebenden in der Ausstellung Survivors auf Zollverein. Dadurch, dass die Ausstellung in Düsseldorf eine thematisch breit gefächerte Werkschau über 10 Jahre ist, hat das einzelne Thema eine nicht so starke Wirkkraft.
Liebe Grüße
Barbara
Unglaublich diese Bilder – eine eindrucksvolle Darstellung unterschiedlichster Themen. Martin Schoeller ist unbedingt sehenswert. Diese Vielfalt ist wie das wahre Leben – eben bunt. Und was der eine als schön empfindet, mag den anderen abstoßen. Die Art der Darstellung ist gewaltig. Die Wirkung auf den Betrachter ist teilweise so stark, dass es ihn fast erschlägt. Aber auf jeden Fall faszinierend. Ich habe mit großem Interesse deinen Beitrag verfolgt und finde es klasse, dass du uns daran teilnehmen lässt. Großartige Bilder, die du festgehalten hast!
Liebe Angelika,
danke für deine ausführliche und differenzierte Rückmeldung! Ich schätze an Martin Schoeller seinen Stil der Fotografie, besonders bei den Close Ups, aber auch seinen Humor, den er bei den Portraits einsetzt. Ich bin ebenso angetan von seinen vielfältigen sozialen Projekten, mit denen er den Betrachter konfrontiert. Besonders beklemmend fand ich die Death Row Exonorees und ihre Leidensgeschichten.
Liebe Grüße
Barbara