Verlassene Orte
Verlassene Orte (oder lost places – verlorene Orte – im deutschsprachigen Raum, abandoned places – verlassene Orte – im englischsprachigen Raum) sind Gebäudekomplexe, die von Menschen, die dort gelebt haben, verlassen worden sind.
Aus unterschiedlichen Gründen. Ihre Spuren verwischen sich im Laufe der Zeit, die Gebäude stehen oft jahrelang leer und sind dem Zahn der Zeit ausgesetzt.
Unbewohnte, ungeheizte Räume setzen Schimmel an und Feuchtigkeit dringt ein. Farbe und Tapeten blättern ab, Decken und Böden werden porös, eine Begehung wird riskant.
Dem schleichenden Verfall entspricht unmerklich die Rückeroberung durch die Natur: Efeu bahnt sich den Weg in die Räume, Äste und Wurzeln breiten sich aus.
Graffiti-Sprayer und street artists kommen auf ihre Kosten.
Der morbide Charme verlassener Orte ist anziehend für Fotografen. Motive sind faszinierend, skurril und bizarr.
Gleichzeitig sind verlassene Orte ein Spiegelbild der eigenen, menschlichen Vergänglichkeit. Und dabei fallen mir diese Zeilen aus Berthold Brechts Gedicht Vom armen B.B. ein.
Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte
In Häusern, die für unzerstörbare galten. […]
Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!
[ …] Wir wissen, dass wir Vorläufige sind
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.
Eine selbstgebastelte Kamera und ein Gutschein
Vor ein paar Jahren schenkten mir Lisa und Gerlinde einen selbstgebastelten, ziemlich echt aussehenden Fotoapparat mit einem großzügigen Gutschein von go2know für eine der Fototouren an geheimnisvollen Orten.
Was für eine wunderbare Idee!
Und obwohl ich sehr regelmäßig nach Berlin fahre, hat es noch bis Anfang Dezember gedauert, bis ich den Gutschein endlich eingelöst habe. Bis dahin habe ich immer mal wieder die Website von go2know besucht, um nach Terminen zu schauen. Für die Location hatte ich mich schnell entschieden: die Beelitz Heilstätten im Süden Berlins. Mir gefielen die Fotos auf der Website, es ist ein sehr großes Areal und leicht von Berlin aus zu erreichen.
Und dann kam das Aus! für Fototouren in den Beelitz Heilstätten. Ende Dezember sollten die letzten Führungen stattfinden, weil das Areal verkauft war und einer neuen Bestimmung zugeführt werden soll. Da habe ich mich kurzerhand entschlossen, nach Berlin zu fahren.
Eine Fototour bei go2know
Nach der unkomplizierten Buchung der Fototour bekam ich umfangreiches, gut aufbereitetes Material zugeschickt:
• allgemeine Infos zum Treffpunkt
• genaue Info zur Anfahrt mit Auto oder Bahn
• eine Notfallnummer
• Tourpläne in Übersicht und Detail ( Zentralbadeanstalt, Wohnpavillion A1, Verwaltungsgebäude)
• Hinweis auf fotografische Besonderheiten
• Tipps für die Ausrüstung
Ich hatte mich im IBIS-Hotel am Hauptbahnhof einquartiert, um kurze Wege zu den Zügen zu haben. Eine sehr kluge Entscheidung, die ich bei der Buchung noch gar nicht so abschätzen konnte. Bei meiner Rückfahrt gab es morgens früh einen Bahnstreik, der für ziemliches Chaos sorgte. Mein Hotel wurde zu meiner Basis, von der ich kaffeetrinkend die BahnAPP verfolgt habe und dann zur passenden Zeit über die Straße zu meinem Zug ging.
Am Treffpunkt – dem Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude Bahnhof Beelitz Heilstätten – versammelte sich eine große Gruppe von Fotografen, die vom go2know Team in Empfang genommen wurde. Die Atmosphäre war locker und freundlich. Gleichzeitig zeigte sich das Team als umsichtig und verantwortungsvoll. Wir bekamen Bändchen als Zeichen, dass wir zu einer angemeldeten Gruppe gehörten.
Wir bildeten zwei Gruppen für zwei verschiedene Areale mit jeweils einem Begleiter, der mit Rat und Tat zur Verfügung stand.
In der Mittagszeit bot das go2know Team einen Rundgang mit historischem Überblick für die ganze Gruppe an.
Verschnaufen, sich Aufwärmen mit Kaffee und Tee, und Nikoläuse aus Schokolade naschen konnte man an der Foto-Basis zwischen dem Verwaltungsgebäude und der Zentralbadeanstalt.
Sven hat auch noch Glühwein gekocht, von dem ich dankbar gegen Ende meiner Tour einen Becher voll getrunken habe.
Das Team von go2know hatte alle Stellen, wo es richtig gefährlich werden konnte, mit Flatterbändern markiert.
Trotzdem musste man sehr aufpassen, wohin man trat. Feste Schuhe und eine Kopflampe sind unerlässlich. Ich hatte außerdem meine Wollhandschuhe ohne Fingerkuppen eingepackt. Ohne die wären meine Finger beim Fotografieren erfroren.
Die scheinbar große Gruppe verteilte sich und ich war froh, immer mal wieder jemandem zu begegnen. Im fahlen Dezemberlicht kann es in diesen Gemäuern ziemlich spooky werden.
Die Beelitz Heilstätten: der Brandenburger Zauberberg
Die Bezeichnung Zauberberg ist eine Anspielung auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg von 1924, einem Sanatorium für Tuberkulosekranke in den Schweizer Alpen in der Nähe von Davos. Die elitäre, gut betuchte bürgerliche Klientel, die Thomas Mann beschreibt, hat nichts gemein mit der Klientel in den Beelitz Heilstätten noch mit dem Künstler-Umfeld von Puccinis La Bohème, in der auch Musettas Muff Mimis eiskalte Hände nicht mehr wärmen kann.
Die Klientel in den Arbeiterheilstätten und Tuberkulosekrankenhaus Beelitz Heilstätten bestand aus Arbeitern, die aufgrund ihrer Lebensumstände anfällig für diese Krankheit waren:
Durch die Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert kam es in Berlin zu einer Wohnungsnot, der durch den Bau von Mietskasernen begegnet wurde. Eine Familie mit mehreren Kindern wohnte in einem Raum plus evtl. ein Schichtarbeiter als Schlafgänger, um dem Mietdruck standhalten zu können.
Diese Behausungen hatten kaum Licht oder Belüftung, mangelhafte Wasserversorgung, Feuchtigkeit. Die Menschen litten unter schlechten hygienischen Verhältnissen und Mangelernährung und waren ausgezehrt von harter Arbeit (10-12 Stunden) in den Industriebetrieben, die Arbeitsschutzmaßnahmen und geregelte Arbeitszeit nicht kannten.
Ein idealer Nährboden für die Ausbreitung der Tuberkulose, der in den 1880er-Jahren im deutschen Raum jährlich 110 000 bis 120 000 Menschen zum Opfer fielen.
Es galt die Arbeitskraft der Arbeiter zu erhalten und wehrtüchtige Männer für den Krieg bereitzustellen.
Außerdem belasteten die vielen Krankheitsfälle die noch jungen Sozialsysteme.
1898 wurde der Bau eines Heilstättenkomplexes von der Landesversicherungsanstalt beauftragt – quasi als Gegenentwurf zu den Lebensverhältnissen der Arbeiterschaft:
- als Standort die sauberen, ruhigen Kiefernwälder um Beelitz
- eine großzügige Architektur auf neuestem technischen Stand mit besten Baumaterialien hergestellt
- lichtdurchflutete, helle Räume und Flure
- Liege-und Wandelhallen
- Park-und Gartenanlagen
- penible Hygiene
- gute Verpflegung
(aus: Deutsche Bauzeitung, 38. Jg. Nr 11, 06. Februar 1904, S.61.)
Ich danke Sven für den Hinweis auf diese interessante Quelle und Jörg dafür, das Beste aus der schlechten Vorlage herauszuholen.
Der Lageplan zeigt die 4 Quadranten der Anlage und die strenge Abtrennung von Sanatorium und Lungenheilstätte durch die Bahntrasse einerseits, Männern und Frauen andererseits (durch die Strasse) und die Bewaldung – ein elementarer Bestandteil der Therapie.
Die Zeit zwischen 1914 und 1995
Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurden die Heilstätten zu Lazaretten umfunktioniert und von 1945 bis 1994 von den sowjetischen Streitkräften als zentrales Armeekrankenhaus genutzt. Kyrillische Zeichen an einzelnen Wänden zeugen davon. Hier ein besonders poetisches Beispiel:
Man kann reisen ohne zu verreisen, träume!
Danke, Rita, für die Übersetzung!
Nach Abzug der russischen Armee gingen die Heilstätten wieder in den Besitz der Landesversicherungsanstalt Berlin über. Sie ließ das Gelände und die Gebäude unter Denkmalschutz stellen und verkaufte es 1995.
Nutzung des Geländes und der Gebäude heute
Das Heilstättengelände erfährt wechselnde Besitzer und weitgehend leerstehende Gebäude.
Dafür erlangt es eine gewisse Berühmtheit durch Foto-und Filmarbeiten und historische Führungen.
- Aus der Lungenheilstätte für Männer wurde die Neurologische Rehabilitationsklinik.
- Die Anlagen des Heizkraftwerks werden vom Förderverein Heiz-Kraft-Werk Beelitz-Heilstätten e.V. betreut.
- Über dem Gelände der Lungenheilstätte für Frauen entstand der Baumkronenpfad Beelitz
- Das Sanatorium für Frauen verwandelt sich in das Refugium Beelitz, eine „Creative Village“ mit Atelierwohnungen, „kreativen Grundrissen für Familien“ und „ kleinen Hideaways“ für Singles. Laut Website sind alle bisher fertiggestellten Wohnungen verkauft oder vermietet.
Mein Fotoabenteuer in den Beelitz Heilstätten
Von den 4 Quadranten des Heilstättenkomplexes war im Dezember 2018 nur noch das Gelände und die Gebäude des Sanatoriums für Männer zugänglich. Aber das Areal ist so groß und die Gebäude mit ihren verschiedenen Stockwerken so interessant, dass ich nicht alle Fotomöglichkeiten in den 7 Stunden der Tour ausschöpfen konnte.
Ich danke dem go2know-Team, dass ich den Ausschnitt aus dem Lageplan auf meiner Website veröffentlichen darf.
Andere Fotografen erzählten mir, dass sie schon mehrfach bei einer Fototour in Beelitz mitgemacht haben. Das macht Sinn. Man kann sich auf Ausschnitte konzentrieren und gelassen bleiben. Ich war anfangs von dem Aspekt Vollständigkeit getrieben, habe dieses Unterfangen aber schnell aufgegeben und mich nur auf das, was sich vor mir bot, eingelassen.
Bäckerei, Wäscherei und Kesselhaus
Die Zentralbadeanstalt
Das Sanatorium für Männer – Wohnpavillion A1
Nach 6 Stunden Fotografieren mit einer kleinen Pause ließ meine Konzentration merklich nach, ich war durchgefroren und wollte nur noch ins Warme.
Es war ein spannendes Abenteuer. Danke Lisa, danke Gerlinde für diese gelungene Initiative!
Irgendwann mache ich eine weitere Tour zu einem verlassenen Ort!
TIPP
Es gibt einige Literatur zu den Beelitz Heilstätten und reichlich Websites mit Erfahrungsberichten.
Sehr aufschlussreich finde ich das Büchlein von
Andreas Böttger, Andreas Jütermann und Irene Krause:
Beelitz-Heilstätten. Vom Sanatorium zum Ausflugsziel. Berlin ³2017.
Es ist kompakt, prallgefüllt mit Informationen und für einen sensationellen Preis von 5€ zu erwerben.
Andreas Jütermann betreut auch die Website http://www.beelitzer-heilstaetten.de
Hallo Barbara,
einen sehr informativen und kurzweiligen Beitrag, gespickt mit ansprechenden Fotos, zeigst du hier auf deiner Website.
Meinen Glückwunsch und ich schau gerne wieder mal hier vorbei.
Viele liebe Grüße Ulrika
Liebe Ulrika,
danke für deine positive Rückmeldung! Ich freue mich, wenn du wieder mal auf meiner Website vorbeischaust.
Ich denke gerne an unseren gemeinsamen Fotonachmittag in der Great Hall des British Museums.
Liebe Grüße, Barbara
Wieder so eine gelungene und eindrucksvolle Bildreportage von Dir, liebe Barbara! Sie hat mich sehr berührt: So ist der Lauf der Dinge und alles ist dem Verfall preisgegeben, wenn man sich nicht darum kümmert. Aber das hast Du ja mit Deiner Dokumentation und Deiner klugen Bildauswahl sehr überzeugend getan! Ich freue mich auf weitere „Reportagen“ von Dir!
Liebe Ulrike,
danke für deine differenzierte und mich anspornende Rückmeldung und den Hinweis auf die Fotostrecke “ Italiens stille, verlassene Psychiatrien“ von Sven Fennama. Sehr eindrucksvoll! Mich begleiten seit einigen Jahren die Fotos von Stephen Wilkes in seinem Bildband „Ellis Island. Ghosts of Freedom“. Ich kann New York ohne Ellis Island nicht denken.
Hallo Barbara,
frohe Ostern, endlich bin ich dazu gekommen, deinen Beitrag anzuschauen.
Schön aufbereitet und mit Text hinterlegt: da bist du viel weiter als ich (Neid).
Letzte Woche war ich letztmalig in Beelitz, Wetter war nicht so toll, die Aufnahmen sind umso dramatischer. Das Gelände ist verkauft, durch sich verzögernde Genehmigungen sind nun noch Touren bis Ende Juni möglich. Alle Bauten werden erhalten, die Bäume werden fallen und dazwischen werden Einfamilienhäuser im „historisierenden Stil“ gebaut. Die Gesamtanlage sieht gruselig aus. Der Charme des Gesamtensembles geht völlig verloren. Wenn ich dir erzähle, dass ein Häuschen in der Größe von etwa 100qm ca. 800.000€ kosten soll, kannst du dir vorstellen, welches Klientel dort wohnen wird. In 2 Jahren soll dann alles fertig sein.
na, ja, unsere Zeit dort ist vorbei.
Wenn du mal in Berlin bist, melde dich einfach.
Schöne Feiertage, Grüße aus Berlin, Karsten
Lieber Karsten,
ich wünsche dir ebenfalls frohe Ostern!
Ganz herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Er bestätigt mich, dass ich spontan im Dezember nach Beelitz gefahren bin. Deine Beschreibung der künftigen Gesamtanlage sagt alles. Und laut Website der „Refugium Beelitz“ (natürlich „Refugium“!) sind alle Wohnungen und Häuser verkauft oder vermietet. Wenn ich in Berlin bin, melde ich mich. Das hast du jetzt davon. Herzliche Grüße, Barbara
Liebe Barbara,
ich bin heute mal wieder auf Deiner Seite gelandet.
Ganz großes Kompliment – toller Artikel, faszinierende Bilder – einfach klasse.
Habe mit Lena letztes Jahr auch einmal an einem Lost-Place „geshootet“ – allerdings ohne Führung.
War bei uns eine alte Fabrikhalle in der Nähe, viel kleiner aber es war auch eine irgendwie eigenartige Stimmung.
Kann deshalb bei Deinen Bildern und dem Artikel zumindest ansatzweise mitfühlen.
Liebe Grüße
Pierre
Lieber Pierre,
ganz herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Ich habe mich sehr gefreut, von dir wieder einmal zu hören.
Es war eine sehr interessante Erfahrung zwischen Neugier, Faszination und einer gewissen Ehrfurcht vor dem Vergangenen. Diese Orte haben ja mit Menschen zu tun und – wie Brecht es resigniert formuliert – was von ihnen übrig blieb.
Liebe Barbara,
der 1. Ferientag und ich kann in Ruhe deine Bilder und deine informativen Texte genießen. Vielen Dank dafür. Wirklich faszinierend. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Orte als Filmkulisse dienten. Dann das Bild mit dem Flügel. Warum steht der noch da?
Schöne Ostern
Andrea
Liebe Andrea,
wie schön, dass ich dir den Ferienbeginn versüßen kann!
Der Flügel diente sicherlich als Requisit in einem Film (Seven Deaths of a Bird mit Meret Becker?) und ist einfach übrig geblieben – wie der Behandlungsstuhl auch. Das freut die Fotografen! Dir auch schöne Osterfeiertage. Barbara
Hallo Barbara, wie immer bin ich sehr von deinen Fotos beeindruckt.
Besonders diese haben eine magische Wirkung auf mich.
Liebe Zahra,
herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Es ermutigt mich, wenn ich mir wichtigen Menschen eine Freude mit meinen Fotos machen kann. – Leider hatte mein System deine Nachricht als Spam eingeordnet. Deshalb habe ich sie erst heute entdeckt und gerettet!
Liebe Barbara,
das Adjektiv schön passt diesmal nicht richtig. Vielmehr sind die Bilder faszinierend und haben teils eine gruselige Aura, wie sie vlt. nur lost places haben können.
Die Reise hat sich wahrlich gelohnt!
Lieber Daniel,
da hast du recht. Das Dekadente hat schon etwas Faszinierendes, aber auch etwas Tragisches. Ich finde es sehr schwierig, das fotografisch zu erfassen.
Wie schön, dass du’s endlich gemacht hast!!! Eindrucksvolle Bilder einer speziellen Location, du hast wirklich das BESTE gezeigt! Das war die Idee und du hast es super umgesetzt…
Danke für dein Lob! Das war eine echte Herausforderung! Gleichzeitig war ich sehr neugierig, wie der Ort auf mich wirkt. Und es war mir wichtig, mich genauer mit dem historischen Kontext zu beschäftigen.
Liebe Barbara, das ist wirklich total interessant. Von solchen Orten geht wirklich etwas Faszinierendes aus. Und wieder super Fotos!
Wow! Du bist aber schnell! Ja, ich fand es sehr spannend und herausfordernd – vom Gelände her und vom Fotografieren.